Gestern Abend besuchten wir die Inszenierung der Bühnen Bern des Stücks „Eichmann - Wo die Nacht beginnt“. Es handelt um Eichmann, ein Mann, der in der SS einen sehr hohen Rang hatte und die Deportationen, die Konzentrationslager und die Vergasungen plante. Er war einer derjenigen, die nicht mit der Ausrede „Ich habe gar nicht genau gewusst, was mit den Juden passierte“ davon kommen konnten. Er wusste genaustens, was geschah, er plante es ja schliesslich. Das Theater war ein fiktives Gespräch zwischen Hannah Arendt, einer politischen Theoretikerin, die sich mit ihm befasst hatte, und Eichmann selbst. Geschrieben hat es Stefano Massimi, der Hannah Arendts Buch, welches sie über Eichmanns Prozesse geschrieben hatte, gelesen hat.
In diesem Blog möchte ich auf einige Aussagen und Ideen eingehen, die für mich herausstachen und herausfinden, was diese Aussagen für mich bedeuten, inwiefern ich sie auf mein Leben anwenden kann und sie evtl. weiterentwickeln.
Die erste Aussage, die mir hängenblieb und die ich, hätte ich den Text gelesen, mir wahrscheinlich angestrichen hätte, war folgende:
„Niemand hat das Recht, zu gehorchen.“
Diese Aussage bezieht sich darauf, dass Eichmann oftmals wiederholte, er habe nur Befehlen gefolgt. Er weisste jegliche Schuld ab, entzog sich der Verantwortung über das Geschehene, denn er habe ja nur Befehlen gefolgt. Viele Deutsche unterstützen die Deportation und Vernichtung der Juden, seine Überstehenden unterstützen es, und wenn es alle wollen, dann sei es ja in Ordnung, die Planung zu übernehmen. Das Problem am ganzen ist der Moment, an dem ein Mensch vor der Wahl steht, den bequemen, „bösen“ Weg zu gehen oder den „guten“ Weg, der oftmals mit Nachteilen kommt. Wenn man bei einer solchen Wahl den schwierigeren Weg wählen könnte, ihn jedoch nicht wählt, weil andere Faktoren wie Macht, Geld oder Annerkennung einem wichtiger sind, dann entscheidet man sich gewissermassen dafür, böse zu sein. Niemand hat das Recht, diese moralische Wahl einem Überstehenden abzugeben und sich frei von jeglicher Schuld zu betrachten, wenn man in Wahrheit genau diese Wahl hat. Die einfachere Entscheidung, sich Unterzuordnen, mitzumachen, nicht zu hinterfragen und sich von jeglicher Verantwortung freizusprechen ist eine Faulheit, die niemand verdient hat.
Sicherlich gibt es Fälle, bei denen es eine existentielle Entscheidung ist, welchen Weg man einschlägt, zum Beispiel bei den Juden, die beim jüdischen Ordnungsdienst waren. Meiner Meinung nach haben sich diese Menschen auch bewusst für das „böse“ oder moralisch falsche entschieden. Im Gegensatz zu Eichmann kann ich ihre Entscheidung aber viel besser nachvollziehen.
Eichmann zu verstehen war für mich allgemein ein sehr schwieriges Unterfangen. Ich mag es eigentlich, mir zu überlegen, aus welchen Gründen Menschen in meinem Umfeld handeln wie sie handeln. Eichmann ist aber ein totaler Extremfall; nach dem Theater verstehe ich nun, dass er nach Macht, Annerkennung, Status und einem Namen strebte und das Ganze nicht so nah an ihn ranliess; doch irgendwie kann das ja nicht alles sein? Man kann doch gar nicht jahrelang in totaler Ignoranz leben, sich von einem Gemeinschafts- und Überlegenheitsgefühl treiben lassen und sich auch Jahre später nicht als schuldig sehen?
Eine weitere, sehr interessante Aussage des fiktiven Eichmanns kam am Anfang, als er meinte, er habe gar nichts gegen Juden per se. Er erzählte, er habe sogar einen Verwandten, der mit einer Jüdin verheiratet sei, welche Eichmann sehr gerne hätte. Er ässe gerne bei ihnen Abendbrot und sie sei eine nette Frau, sagte er. Diese Worte trafen mich ziemlich stark, denn genau dieselben hatte ich vor eineinhalb Wochen gehört, als ich meine Grosseltern in der Oberlausitz besuchte. Ziemlich exakt diesselben Aussagen, nur waren es statt Juden die „Ausländer“. Sie erzählten mir nämlich von einzelnen Ausländern, die sie sehr gerne hätten, mit denen sie guten Kontakt haben, die in die Kirche gingen und welche, mit denen sie gute Brieffreundschaften haben. Und im nächsten Satz beschwerten sie sich über „die Ausländer“ als Ganzes und verallgemeinerten wieder. Einzelne Personen als Menschen sehen zu können, und doch einen solchen Hass auf die Gruppe zu haben, der sie automatisch zugewiesen werden. Und doch solch starke Vorurteile zu haben gegenüber jedem Ausländer, den sie noch nicht kennengelernt haben. Eine Gegensätzlichkeit, die ich noch nicht vollständig begreifen kann.